Die Uhrzeit an den Sternen ablesen



Bekanntlich verschiebt (oder besser gesagt, dreht) sich der Sternenhimmel im Laufe einer Nacht. Da dies ein Prozess ist, der nach festen Regeln erfolgt, sollte es möglich sein, am Stand der Sterne die Zeit abzulesen.
Das wäre kein Problem, wenn die Erde nicht um die Sonne kreisen würde. Dadurch nämlich sehen wir jede Nacht einen etwas anderen Ausschnitt des Universums am Nachthimmel. Ein ganzer Umlauf der Erde - das sind 360 Grad - dauert ca. 365 Tage, also verschiebt sich der nachts sichtbare Ausschnitt jeden Tag um ca. 1 Grad. Das muss berücksichtigt werden, wenn man aus den Sternen die Zeit bestimmen will.

Die Zeit, die die Sterne anzeigen, nennt man Sternzeit (mit der "Sternzeit" auf Raumschiff Enterprise dürfte das nichts zu tun haben). Wir auf der Erde sagen, es ist Mittag, wenn die Sonne durch den Meridian geht, also im Süden steht. Und ganz ähnlich sagt man, es ist Mitternacht Sternzeit, wenn der so genannte Frühlingspunkt durch den Meridian geht.
(Der Frühlingspunkt ist das "Greenwich des Sternenhimmels", der Nullpunkt des astronomischen Gradnetzes, und liegt im Sternbild Fische.)

Da sich aber der Sternenhimmel - und damit der Frühlingspunkt - jeden Tag ein Stückchen verschiebt, verschiebt sich auch die Sternzeit-Mitternacht jeden Tag um ein paar Erd-Minuten.


Wie dem auch sei, durch einen Schachzug der Natur kann man an zwei markanten Sternen die Sternzeit einfach ablesen. Wie an einer Uhr! Die Mitte der Uhr, wo die Zeiger befestigt werden, ist der Polarstern. Logisch, denn das ist der einzige Stern, der sich nie bewegt und immer im Norden steht. Der Zeiger der Uhr ist das Sternbild Kassiopeia, das man sehr leicht erkennt, weil es wie ein großes W aussieht. (Manchmal steht es auf dem Kopf, dann ist es eben ein großes M.) Die Kassiopeia geht in Mitteleuropa nie unter, was natürlich auch von Vorteil ist. Und sie dreht sich ständig um den Polarstern herum, genau wie ein Uhrzeiger; allerdings gegen den Uhrzeigersinn. Von den fünf Sternen, aus denen die Kassiopeia besteht, muss man den Stern nehmen, der im "W" ganz rechts liegt, bzw. im "M" ganz links. (Dieser Stern heißt Beta Cassiopeiae, oder Chaph.) Chaph hat ganz wunderbare Eigenschaften:
  • Wenn Chaph genau oberhalb des Polarsterns steht, ist es Null Uhr Sternzeit.
  • Wenn Chaph westlich (links) des Polarsterns steht, ist es sechs Uhr Sternzeit.
  • Wenn Chaph genau unterhalb (nördlich) des Polarsterns steht, ist es zwölf Uhr Sternzeit.
  • Wenn Chaph östlich (rechts) des Polarsterns steht, ist es 18 Uhr Sternzeit.

Es ist aber etwas kniffelig, die Sternzeit damit abzuschätzen, vor allem in den West- und Ost-Richtungen. Das liegt an der ungewohnten, gewölbten Geometrie des Firmaments. Am besten, man markiert sich die Nord-Süd-Achse mit dem Polarstern, stellt sich senkrecht dazu und merkt sich den West- oder Ost-Punkt am Horizont. Dann zieht man die Verbindungslinie dieses Punktes zum Polarstern. Es muss gar nicht rechtwinklig aussehen, denn der Himmel ist ja nun einmal krumm.
Die Schwierigkeit, die Sternzeit z.B. als 16.45 Uhr abzulesen, wenn es nur die Markierungen "12 Uhr" und "18 Uhr" gibt, kann sich aber sicher jeder vorstellen! Damit wird die ganze Geschichte natürlich potenziell ziemlich ungenau.
Die Positionen von Kassiopeia (unten) und Polarstern. Oben der Große Wagen, der beim Finden des Polarsterns hilft (Pfeil).

Gut, aber was hat man von der Sternzeit, wenn man die normale Uhrzeit wissen will??
Dazu muss man die Sternzeit umrechnen. Da sich - wie gesagt - die Sternzeit im Laufe eines Jahres gegenüber unserer Erd-Uhrzeit verändert, muss das Datum in diese Rechnung eingehen.
Man braucht den TAG und die Zahl des MONATs, Januar ist gleich 1, Februar gleich 2 usw. Für Mitteleuropa habe ich folgende Faustformel ermittelt:

  MEZ = Sternzeit minus (MONAT mal 2 plus 4) Stunden minus (TAG mal 4 plus 20) Minuten  

Das Ergebnis ist MEZ, die Mitteleuropäische Zeit. Im Sommer, wenn die Sommerzeit gilt, muss man natürlich noch "plus eins" rechnen, damit die Uhrzeit stimmt - denn die Sommerzeit ist eine künstliche Erfindung, die rein gar nichts mit der Erddrehung, der Sonne oder den Sternen zu tun hat. --- Wer gut in sterischer Trigonometrie ist, der kann ja mal grübeln, ob die Methode, oder eine leichte Variation, auch für andere Zeitzonen funktioniert.

Bleibt die Frage: Wie gut ist die Methode?
Am besten, immer mal wieder ausprobieren, wenn man nachts nach Hause torkelt. Bei mir war es bisher so: Ab und zu trifft es genau, oder mit 5 Minuten Fehler, manchmal ist der Fehler aber auch zwei Stunden groß - je nachdem, wie gut man die Himmelsuhr abgelesen hat. Übung macht den Meister!
Seinen Videorecorder sollte man mit dieser Methode also nicht steuern. Aber eine grobe zeitliche Orientierung liefert es allemal.


Der Autor übernimmt keinerlei Haftung für verpasste Flugzeuge, für Damen, die das Warten aufgegeben haben, für zu hart gekochte Eier und alle anderen Unpässlichkeiten, Unglücke und Ereignisse überhaupt, die sich als Konsequenz der Ungenauigkeit beim Anwenden der oben beschrieben Methode der Zeitbestimmung ereignet haben!




(c) 1997 Eike Bierwirth, Neu-Anspach / Ts. (Webversion Leipzig, Nov.2003)