Die Entstehung eines Staates in einer vorher nicht staatlich organisierten Gegend ist in aller Regel schwer auszumachen und unser Wissen gründet sich meistens auf Legenden. In Westeuropa gibt es schon seit 2000 Jahren in vielen Ländern Staatsstrukturen, einfach, weil man von Rom erobert worden war; aber wäre da nicht die Sage von Romulus und Remus, wohin setzt man den Anfang des Römerstaates? Über ihre Vorgänger, die Etrusker, weiß man noch weniger. Ähnliches findet man bei den Anfängen Rußlands.
Zusätzlich allerdings findet man hier zwei Kondensationskeime der Rus', einerseits im Hinterland der Ostsee bzw.des Finnischen Meerbusens, andererseits am Dnjepr, wo schon in frühester Slawenzeit die Stadt Kiew lag. Während über die Gründung eines Staates in Kiev nicht viel bekannt ist, und nur "plötzlich" einige Anführer in den Chroniken auftauchen, sind im Norden ein Datum und sogar die Gründer namentlich bekannt: im Jahre 862 n.Chr. wurde der Waräger Rjurik zum Fürsten gekürt.
Wer allerdings diese Waräger waren, ist nicht so klar. Ob sie lokal Ansässige waren oder eingewanderte Wikinger aus Skandinavien - da streiten sich die Gelehrten. Aus der Sicht russischer Gelehrter wird jedenfalls gern betont, dass die Wikingerthese vor allem von "westlichen" Forschern vertreten wird, insbesondere zu Zeiten der Konfrontation der Blöcke. Verständlich, es klingt unbehaglich, zu sagen, die geliebte Heimat war gar nicht auch die Heimat der Ältesten...
Der Kaiser des Byzantinischen Reiches ist gerade auf einem Feldzug in Arabien. Zu diesem ungünstigen Augenblick berichtet die Chronik von einem Angriff der Russen auf Konstantinopel. Es gelingt ihnen allerdings nicht, die Festung zu nehmen, und so einigt man sich auf einen Friedensvertrag. Byzanz zahlt eine Geldsumme sowie jährliche Tribute; der in Kiew regierende Fürst läßt sich 864 byzantinisch taufen (zeitgleich mit dem Bulgarenfürsten Boris).
Währenddessen entsteht im Norden ein zweites Staatszentrum, wobei der Grundstein einer langen Dynastie gelegt wird. Die am Ilmen-See versammelten Stämme ernennen den Waräger Rjurik zum gemeinsamen Fürsten. Zunächst ist die Residenz im Städtchen Ladoga, bald in Novgorod.
Die Sage weiß noch von zwei Brüdern Rjuriks zu berichten: Sineus und Truvor, die die Gegend am Weißensee bzw. um Izborsk herrschen. Nach ihrem Ableben fallen aber auch diese Gebiete an Rjurik.
Bei seinem Tod hinterläßt Rjurik nur einen minderjährigen Sohn, Igor. Die Regierung übernimmt ein Krieger und Verwandter Rjuriks, Oleg. Seine wesentliche Tat war die Eroberung Kiews und damit die erste Vereinigung der Rus'.
Oleg stellt ein großes Heer auf und zieht von Novgorod nach Süden. Smolensk und Ljubetsch werden erobert. Die Mauern von Kiew allerdings zwingen ihn zu einer List. Er schickt Gesandte zu den beiden Kiewer Anführern, Askold und Dir, und läßt ihnen ausrichten, eine Handelskarawane erwarte sie am Fluss zu Verhandlungen. Die beiden fallen darauf hinein und kommen zum Treffpunkt. Schwer ist die Überraschung, als sie sich von Olegs Soldaten umringt sehen. Oleg stellt ihnen den kleinen Igor vor als den "einzig wahren Fürsten". Askold und Dir überleben die unangenehme Begegnung nicht, Oleg hat Kiew damit erobert und erklärt es im Jahre 882 zur Hauptstadt der Rus' - jetzt ist der von Historikern geprägte Begriff Kiewer Rus gerechtfertigt. Erstmal jedenfalls.
Im Osten der Rus' liegt das Khanat (Kaganat) der Chasaren. Ihnen sind bisher etliche der Stämme in Reichweite der Rus' tributpflichtig. Oleg allerdings gelingt es, in den Folgejahren die Stämme der Drevljanen, Severjanen ("Nördlinge") und Radimitschen für die Rus' zu "gewinnen".
Oleg unternimmt einen neuen Feldzug gegen Konstantinopel. Als die russischen Schiffe die Stadt umringt haben, bitten die Byzantiner unter Kaiser Leo VI. um Frieden: Byzanz zahlt jährlichen Tribut an Kiew, die russischen Händler dürfen zollfrei die byzantinischen Märkte benutzen; außerdem erhalten die Russen uneingeschränktes Nutzungsrecht der Badeanstalten im Kaiserreich.
Fürst Igor kommt nach Olegs Tod auf den Thron. Ein Aufstand der Drevljanen wird niedergeschlagen, mit den an der Südgrenze einfallenden Petschenegen wird ein Friede geschlossen. Im Zuge der Angliederung weiterer Landstriche an die Rus' im Süden nähert sich die russische Grenze nicht nur der Grenze des Chasarenstaates, sondern auch den byzantinischen Kolonien auf der Krim und an der Schwarzmeerküste. Dies ruft in Konstantinopel Missmut hervor - ausserdem verlangen die russischen Händler zusätzliche Privilegien. Daraufhin kommt es 941-944 zum Krieg zwischen den beiden Reichen, in dem das gefürchtete griechische Feuer die russische Flotte zerstört. Als die Russen mit neuen Kräften und den verbündeten Ungarn erneut anrücken, wird 941 ein Friede geschlossen, der den alten im Wesentlichen bestätigt.
Auch den Stamm der Ulitschen kann Igor in die Rus' eingliedern.
Als Igor 945 zum Eintreiben der Tributzahlungen im Land der Drevljanen unterwegs ist, wird er von dortigen Unwilligen ermordet.
Da Igors Sohn Swjatoslaw minderjährig ist, regiert Igors Ehefrau, Fürstin Olga aus der Stadt Pskow. Sie führt ein effizierteres Steuersystem ein und läßt sich in Byzanz taufen; allerdings bleibt die Bevölkerung im wesentlichen weiterhin heidnisch (ihr Hauptgott heißt Perun); die vom deutschen Kaiser Otto I. erbetenen Missionare werden aus Kiew hinausgejagt.
Regierungszeit des Fürsten Swjatoslaw:
964-967 verwüstet und erobert er das Reich der Chasaren. Dieses Kaganat mit der Hauptstadt Itil erstreckte sich vom Kaukasus bis an Don und Wolga, und hatte u.a. die Wolgabulgaren, die Jassen und die Kassogen (die heutigen Osseten bzw. Tscherkessen im Kaukasus) als Vasallen.
967 folgt ein Feldzug gegen Bulgarien. Die Neutralität des Byzantinischen Reiches wird durch das Versprechen gewahrt, die Siedlungen auf der Krim nicht anzugreifen. Der Zug ist erfolgreich - bis an den Unterlauf der Donau erstreckt sich nun das Gebiet der Rus. Dort liegt auch die starke Festung Perejaslawez, wohin Swjatoslaw sogar seine Residenz verlegt.
Das Glück ist leider nicht immerwährend, denn 970 verlangt der neue byztantinische Kaiser Johannes, dass die Russen die Donau verlassen. Im folgenden kurzen Krieg siegen die Russen - doch dieser neue Friedensvertrag hält nicht lange, denn schon 971 hat der Kaiser ein neues Heer aufgestellt und führt an den Osterfeiertagen einen Überraschungsfeldzug nach Bulgarien durch. Fürst Swjatoslaw wird bei der Flucht aus der belagerten Festung Dorostol verletzt. Im Juli wird Friede geschlossen: Die Russen ziehen von der Donau ab und versprechen, dort nicht mehr einzufallen. Ihre Eroberungen am Schwarzen Meer dürfen sie allerdings behalten.
Darüber hinaus verspricht der Kaiser dem Fürsten Beistand gegen die Petschenegen, denn deren Territorium müssen die Russen beim Rückzug ungemütlicherweise durchqueren. Dieses Versprechen aber ist falsches Spiel: heimlich bezahlt der Kaiser die Petschenegen sogar dafür, die Russen aufzuhalten. Und so kommt es zum Kampf, der der letzte Swjatoslaws sein wird.
Swjatoslaws Schädel wird danach vom Petschenegen-Khan Kurja wiederverwendet - als Trinkgefäß.
Fürst Jaropolk:
Wenig ruhmreiches ist hier zu verzeichnen. Jaropolks Brüder Oleg und Vladimir regieren die Provinzen der Drevljanen bzw. Novgorod, und beide streben nach Ablösung von der Kiever Zentralgewalt. Jaropolk zieht mit einem Kiever Heer ins Drevljanenland, und bei einem Gefecht auf der Burgbrücke in Ovrutsch kommt (der gerade mal dreizehnjährige) Oleg ums Leben. Vladimir, kaum, dass er diese Nachricht erhält, flieht zu den Warägern. Er kann dort ein Heer zusammensammeln und erobert zunächst Novgorod zurück. Mit einem noch größeren Heer zieht auch er von Novgorod gegen Kiev. Dort hat Jaropolk aber wenig Rückhalt, und so kann Vladimir Geheimabsprachen mit den Edlen halten, die Jaropolk überreden, an Verhandlungen teilzunehmen. Kaum dort, wird er erschlagen.
980
Der neue Großfürst Vladimir hat die Rus' weiterhin gegen die Petschenegen zu verteidigen. Zu diesem Zwecke baut er ein Warnsystem auf, das aus Ketten von Wachtürmen besteht, die jeweils in Sichtweite zueinander stehen. Entdeckt ein Wachposten den anrückenden Feind, kann er mit Lichtzeichen die Warnung weiterleiten, und in wenigen Minuten ist die Nachricht in der Hauptstadt.
Außerdem erkennt Vladimir die Zeichen der Zeit: Fast ganz Europa gibt das Heidentum auf. Er möchte die Rus' dabei nicht isolieren, und lädt Missionare aller wesentlichen Religionen vor: Muslime von den Wolgabulgaren, Juden aus dem Chasarenreich, Orthodoxe aus Byzanz sowie Katholiken aus Deutschland. Das Alkoholverbot der Moslems hält er für unvereinbar mit den russischen Sitten. Er entscheidet sich schließlich für das orthodoxe Christentum, und teilt dem Kaiser in Konstantinopel mit, er lasse sich gerne taufen, wenn er im Gegenzug dessen Tochter Anna heiraten kann. Anna jedoch läßt den Verehrer sitzen, und so greift er 988 Chersoness (Korsun) an, eine Kolonie der Byzantiner auf der Krim, die er mit Unterstützung des dortigen Hohepriesters Anastas erobert: Ein Pfeil landet in Vladimirs Lager mit dem Tipp, die Hauptwasserleitung zu sperren. Nach der Besetzung von Chersoness wird Anna gegen ihren Willen ("lieber sterbe ich") mit Vladimir vermählt; der Großfürst wird in Chersoness getauft, die Stadt daraufhin den Byzantinern zurückgegeben.
Nicht ganz so einfach war die Christianisierung der ganzen Bevölkerung zu vermitteln; insbesondere der Norden blieb noch lange dem Heidentum treu. In Kiev ließ Vladimir die Statuen der heidnischen Götter um Perun entfernen und auf deren Hügel eine Kirche, die des Heiligen Vasilij, errichten. Am nächsten Tag wurde am Dnjepr eine Massentaufe veranstaltet.
996 wird der Bau des Doms der Heiligen Gottesmutter (Bogorodiza) vollendet. Weil für diese Kirche 10 Prozent der fürstlichen Einnahmen verbraucht wurden, hieß sie auch "Desjatinnaja" (die Zehnte). Parallel führte Vladimir eine Art Schulpflicht ein.
Mit dem Tode Vladimirs wird eine Zeit eingeleitet, die von Machtkämpfen, Dezentralisierung, Zerfall der zentralen Regierungsgewalt, der Rus' überhaupt geprägt ist, nur der gerühmte Jaroslaw der Weise kann noch einmal eine wirklich bedeutende Rolle spielen. Erst 300-400 Jahre später, im Kampf gegen die mongolische Besatzungsmacht, kann sich langsam wieder ein gemeinsamer Staat ausbilden, in dem dann aber Moskau die Führungsrolle übernehmen wird, während Kiev dann gar im Feindesland liegt, im Königreich Polen-Litauen.
Aber zunächst, anno 1015, muß noch die Kiever Thronfolge geklärt werden. Im wesentlichen stehen drei Kandidaten zur Auswahl: